Professor Dr. Med. Habil. Michael Borte im Interview

Primäre Immundefekte – neuer Test zur frühzeitigen Diagnose entwickelt

Das Immunsystem schützt den menschlichen Organismus vor Viren, Bakterien und anderen Mikroorganismen. Bei Menschen mit einem primären – sprich angeborenen – Immundefekt (PID) sind ein oder mehrere Kompartimente des körpereigenen Abwehrsystems gestört oder ausgefallen. Die Folge sind häufige, immer wiederkehrende Infektionen. Das ImmunDefectCentrum Leipzig (IDCL) behandelt aktuell rund 300 Betroffene aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Im Interview erklärt der Direktor des IDCL und Chefarzt der Kinderklinik am St. Georg, Professor Dr. Michael Borte, warum die Krankheit leider meist erst spät erkannt und wie sie behandelt werden kann.

Herr Professor Dr. Borte, wie viele Menschen leiden in Deutschland an einem primären Immundefekt?

Primäre Immundefekte werden immer für eine seltene Erkrankung gehalten. Tatsächlich sind sie jedoch sehr weit verbreitet. Mit einem Verhältnis von 1 zu 250 bis 500 leiden in Deutschland mehr Menschen unter einem primären Immundefekt als an einem Typ-1-Diabetes-mellitus. Hochgerechnet sind das bis zu 50.000 Betroffene. Amtlich registriert waren zum Januar dieses Jahres jedoch nur rund 2.300 Patienten. Das liegt vor allem daran, dass primäre Immundefekte schwer zu diagnostizieren sind.

Warum ist die Diagnosestellung so schwierig?

Weil die Symptome der Erkrankung meist sehr unspezifisch sind. Die fehlende körpereigene Immunabwehr äußert sich vor allem in häufigen und zum Teil schwer verlaufenden Infektionen. Weit verbreitet sind Infektionen der oberen Atemwege, rezidivierende Otitis – also Mittelohrentzündungen – sowie hoch fieberhafte Erkrankungen. Die Deutsche Selbsthilfe Angeborene Immundefekte e. V. hat die wichtigsten Symptome beziehungsweise Hinweise für einen möglichen angeborenen Immundefekt gelistet. Eben aufgrund dieser unspezifischen Symptome ist es umso wichtiger, sowohl die breite Bevölkerung im Allgemeinen als auch Kinder- und Hausärzte im Speziellen für dieses Thema zu sensibilisieren.

Wie erfolgt die Diagnose?

Bei der häufigsten Form primärer Immundefekte, dem Antikörpermangelsyndrom, fehlen dem Körper sogenannte Immunglobuline, die sich im Normalfall an körperfremde Antigene binden, diese eliminieren und weitere Abwehrmechanismen im Körper auslösen. Wir bestimmen also die Anzahl der vorhandenen Immunglobuline. Ist diese reduziert oder sind gar keine vorhanden, deutet dies auf einen Defekt oder das Fehlen von B-Lymphozyten hin, die normalerweise für die Produktion der Immunglobuline zuständig sind. Zudem gibt es verschiedene spezialisierte Diagnoseverfahren, um zu überprüfen, ob auch T-Lymphozyten defekt sind. Sind sowohl B- als auch T-Zellen betroffen, sprechen wir von einem schweren kombinierten Immundefekt. Diese Form ist sehr selten, für Neugeborene jedoch binnen weniger Tage lebensbedrohend.

Wie schnell erfolgt die Diagnose und wie werden Betroffene anschließend behandelt?

Da wir im Klinikum St. Georg über ein eigenes spezialisiertes immunologisches Labor verfügen, ist die Diagnose nach wenigen Tagen gesichert. Im Falle eines Antikörpermangelsyndroms erhalten die Patienten eine Therapie, bei der Immunglobuli G injiziert werden. Die Injektionkann entweder ambulant auf intravenöse Weise im Klinikum erfolgen oder zu Hause subkutan, also unter die Haut, in Heimselbstbehandlung. Diese Therapie erzielt sehr gute Ergebnisse, der Betroffene ist weitestgehend vor Infektionen geschützt und kann wieder aktiv am sozialen Leben teilhaben. Bei einem T-Zellen-Defekt hilft diese Form der Behandlung allein nicht. Hier kommt einzig eine Stammzelltransplantation infrage.

Gibt es Möglichkeiten, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren?

In einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Karolinska-Institut aus Schweden haben wir ein Neugeborenen-Screening – das sogenannte Screening-ID – entwickelt. Hierzu wird zwischen dem 3. und 5. Lebenstag anlässlich des gesetzlich vorgeschriebenen Neugeborenen-Screenings eine Blutentnahme beim Baby durchgeführt. Unser Test detektiert den Mangel wichtiger Immunabwehrzellen bereits zum Zeitpunkt der Geburt, womit betroffene Patienten frühzeitig einer effektiven Therapie zugeführt werden können. Seit drei Jahren bieten wir diesen Test allen Müttern, die ins Klinikum St. Georg zur Geburt ihres Kindes kommen, kostenfrei an. Aktuell prüft der Gemeinsame Bundesausschuss, ob der Test deutschlandweit als Standard eingeführt wird. Ein positiver Bescheid wird zeitnah erwartet.

Warnzeichen für einen Immundefekt bei Erwachsenen:

  •  vier oder mehr Infektionen innerhalb eines Jahres, die mit Antibiotika behandelt werden mussten
  • zwei oder mehr schwere bakterielle Infektionen
  • zwei oder mehr radiologisch nachgewiesene Lungenentzündungen innerhalb von 3 Jahren
  • Infektion mit ungewöhnlicher Lokalisation oder mit ungewöhnlichem Erreger
  • primärer Immundefekt in der Familie

 

 

 

 

 

Warnzeichen für einen Immundefekt bei Kindern:

  • mehr als zwei Lungenentzündungen pro Jahr
  • mehr als zwei schwere Nasennebenhöhlenentzündungen pro Jahr
  • mehr als acht neue Infektionen im Ohr innerhalb eines Jahres
  • Knochenmark- und Hirnhautentzündungen oder schwere Infektionen
  • dauerhafter Pilzbefall im Mund oder anderswo nach dem ersten Lebensjahr
  • unklare chronische Rötungen bei Säuglingen an Händen und Füßen
  • mehr als zwei Monate Antibiotikatherapie ohne Effekt
  • geringes Wachstum, geringes Körpergewicht
  • Immundefekte in der Familie