Fünf Minuten vor Feierabend – ein Moment, der für Justin L. alles veränderte. Der damals 18-jährige Metallschmelzer aus Merzdorf bei Elsterwerda arbeitete am 9. Februar 2022 am Schmelzofen, als es zu einer folgenschweren Verpuffung kam. Heiße Metallschmelze bei über 1.200 Grad ergoss sich über seinen gesamten Körper.
„Ich war die ganze Zeit bei Bewusstsein. Ich habe gebrannt, wurde gelöscht – und wusste trotzdem genau, was passiert“, erinnert sich Justin heute.
Im Rettungswagen wurde er ins künstliche Koma versetzt. Kurz darauf brachte ihn ein Hubschrauber ins Schwerbrandverletztenzentrum des Klinikums St. Georg. Dort kämpften Ärzte um sein Leben. Dass Justin überlebt hat, grenzt an ein Wunder.
„Ein solcher Fall stellt selbst ein spezialisiertes Zentrum wie unseres vor außergewöhnliche Herausforderungen“, erklärt Prof. Dr. Kremer, Chefarzt für Plastische und Handchirurgie am Klinikum St. Georg. „Patienten mit so großflächigen und tiefen Verbrennungen begegnen uns nur etwa ein- bis zweimal pro Jahr. In Justins Fall waren 92 Prozent der Haut so tief verbrannt, dass alle Hautschichten und teilweise sogar das darunterliegende Fettgewebe betroffen waren. Herkömmliche Verfahren zum Hautersatz reichten hier nicht aus. Deshalb mussten wir auf innovative Behandlungsansätze zurückgreifen, darunter die Verpflanzung einer im Labor gezüchteten Haut aus der Schweiz, die aus mehreren Hautschichten besteht.”
Zuerst wurden in mehreren Operationen die verbrannten Hautstellen entfernt und durch Spenderhaut sowie vorübergehend durch künstliche Haut ersetzt. In insgesamt vier Operationen wurde die mehrschichtige Haut, die speziell in Zürich aus Hautzellen des Patienten gezüchtet wurde, auf die betroffenen Stellen übertragen. Jede dieser Operationen dauerte etwa drei Stunden. Zusätzlich wurden zwei weitere Eingriffe mit einer einfacheren Zuchthaut aus Lausanne durchgeführt. Besonders aufwändig war die letzte Transplantation, bei der sogenannte Sprühhaut aus dem Deutschen Institut für Zell- und Gewebeersatz in Berlin verwendet wurde. Für diese Operation verbrachte das Team rund sechs Stunden im OP.
Ein Kraftakt – auch organisatorisch: „Allein die Logistik war enorm herausfordernd“, so Kremer. „Wir mussten eine Hautprobe in die Schweiz schicken und anschließend musste das gezüchtete Gewebe wieder zurück nach Leipzig transportiert werden. Solche grenzüberschreitenden Transporte sind regulatorisch komplex, zumal es sich um lebendes Gewebe handelt.“
Justin verbrachte insgesamt sechs Monate im Klinikum St. Georg – eine intensive Zeit, in der er rund um die Uhr betreut wurde. Neben der medizinischen Versorgung erhielt er täglich Physiotherapie, Ergotherapie und psychologische Begleitung. Auch der enge Kontakt zu seiner Freundin, zu Freunden und Familie half ihm, das Erlebte zu verarbeiten. „Sie haben mich so akzeptiert, wie ich bin“, sagt Justin. An den Krankenhausaufenthalt schloss sich ein weiterer Monat in einer auf Brandverletzungen spezialisierten Rehaklinik in Bad Klosterlausnitz an. „Ich war dort der Jüngste“, erinnert sich Justin. Er musste vieles neu lernen – sogar das Laufen. Durch das lange Liegen und die starke Verbrennung hatte er 25 Kilogramm verloren. „Ich hatte fast meine gesamte Muskelmasse abgebaut und musste erst wieder mit gezieltem Krafttraining nach und nach Gewicht und Kraft aufbauen.“
Schwerbrandverletzte befinden sich in einer sogenannten katabolen Stoffwechsellage – ihr Körper verbraucht deutlich mehr Energie als üblich. Das führt dazu, dass sie anfangs kaum genug Kalorien aufnehmen können, um ihr Gewicht zu halten, und deshalb zunächst an Gewicht verlieren.
Im Anschluss an die umfangreichen Hauttransplantationen und die Rehabilitation folgten weitere Operationen, um die transplantierte Haut spannungsfrei an besonders beweglichen Stellen wie Ellenbogen und Schultern zu halten und Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit durch entstandene Narben zu verhindern. Solche Korrektureingriffe sind laut Prof. Kremer keine Seltenheit: Fast alle Schwerbrandverletzten benötigen über viele Jahre hinweg zusätzliche Operationen – etwa zur Lösung von Narben, zur Verbesserung der Beweglichkeit oder auch zur ästhetischen Anpassung.
Die Kompressionskleidung, die Justin lange Zeit tragen musste, braucht er heute nicht mehr – nur die Physiotherapie ist bis heute fester Bestandteil seines Alltags. „Man sieht Unterschiede an der Haut. An manchen Stellen ist sie dicker und schmerzt. Und ich spüre Kälte und Hitze stärker, aber im Alltag komme ich wieder gut zurecht.“
Ein Zurück in seinen alten Beruf oder ein anderes Handwerk ist nicht möglich – zu groß wären die Risiken durch Öle, Lacke und Hitze für seine empfindliche Haut. Doch Justin hat sich neu orientiert: Er macht eine Umschulung zum Bürokaufmann. „Ich wollte unbedingt wieder arbeiten, wieder Teil vom normalen Leben sein und mir etwas Neues aufbauen.” Trotz allem ist er seinem großen Hobby treu geblieben: Seit 2009 engagiert er sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Auch dorthin kehrt er langsam zurück – Schritt für Schritt. „Ich habe das alles verarbeitet. Ich kann offen darüber sprechen. Und ich weiß heute: Man muss immer vorwärts schauen.“■