„Ich kann niemanden von der Strippe lassen.“
Im zertifizierten Kopf-Hals-Tumorzentrum des Klinikums St. Georg behandelt Chefarzt Dr. Andreas Boehm jährlich rund 100 neue Patienten mit Tumorerkrankungen im Mund- und Rachenraum.
Wenn sämtliche Mediziner des Kopf-Hals-Tumorzentrums zusammenkommen, steht in ihrem Kalender „Tumorboard“. Bei diesem Termin besprechen HNO-Arzt, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg, Strahlentherapeut, Onkologe, Radiologe, Pathologe, Nuklearmediziner und Ernährungsmediziner den Status ihrer Patienten: Was ist gut verlaufen? Gibt es Komplikationen? Muss die Behandlung angepasst werden? „Diese Sitzungen sind das Herzstück unserer Abteilung und für alle Beteiligten herausfordernd“, sagt Dr. Andreas Boehm, HNO-Chefarzt und Leiter des Kopf-Hals-Tumorzentrums. „Wir haben hier eine gute Arbeitsatmosphäre geschaffen, in der alle kritikfähig sind und die Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten an erster Stelle steht.“
„Strukturierte Faulheit“ bringt Vorteile
Dr. Boehms System hat sich bewährt. „Wir gehen bei jedem Patienten nach einem festgelegten Verfahren vor, ohne individuelle Aspekte zu vernachlässigen“, so Dr. Boehm. „Das weckt in unserem relativ kleinen Team eine Art positive Challenge, sich genau an diese definierten Abläufe zu halten.“ Dr. Boehm nennt diese Vorgehensweise „strukturierte Faulheit“ — was negativer klingt, als es tatsächlich ist. Jeden Fall nach einem bestimmten Schema zu bearbeiten, garantiert, dass nichts durchrutscht und alle Beteiligten jederzeit alles im Blick haben.
Davon profitieren nicht nur die Patienten, zum Beispiel durch eine niedrige Komplikationsrate. Das Kopf-Hals-Tumorzentrum arbeitet dadurch auch sehr effektiv. Zudem ist die Vorgehensweise den jährlichen Prüfungen für die Zertifizierung als Krebszentrum zuträglich. „Wir bekommen von den Auditoren immer wieder die Rückmeldung, dass wir genau den Vorgaben entsprechen — und das offensichtlich ohne Mühe“, resümiert der HNO-Arzt.
Rauchen und Trinken — lieber nicht
Tumoren im Mund-, Rachen- und Halsbereich machen sich oft durch Beschwerden beim Schlucken, Atmen oder Sprechen bemerkbar. Oder der HNO-Arzt, Zahnarzt oder der Mund-Kiefer-Gesichtschirurg stellt Auffälligkeiten im Mund- und Rachenraum fest. Viele der Kopf-Hals-Tumorpatienten rauchen und trinken – zwei der Hauptrisikofaktoren für diese Krebsarten. Oft kommen Betroffene erst, wenn die Tumore schon fortgeschritten sind. Bei den Patienten des Kopf-Hals-Tumorzentrums liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei nur 60 Prozent. „Hätten wir eine regelmäßige Vorsorge, wie es beispielsweise in der Gynäkologie üblich ist, sähe das ganz anders aus“, so Dr. Boehm. Um die verlorene Zeit etwas wettzumachen, hat sich der Chefarzt ein Ziel gesetzt: Zwischen dem ersten Termin und Behandlungsstart sollen höchstens vier Wochen liegen. Momentan sind es im Schnitt knapp fünf. Das ist vergleichsweise immer noch schnell. Manchmal bremst auch die Bürokratie, wenn beispielsweise Kostenübernahmen ungeklärt sind.
Plastische Chirurgie erweitert Möglichkeiten
Dr. Andreas Boehm betont die gewinnbringende Zusammenarbeit mit der Plastischen Chirurgie am Klinikum St. Georg. Prof. Dr. Thomas Kremer, Chefarzt der Klinik für Plastische und Handchirurgie mit Schwerbrandverletztenzentrum, „repariert“ die Löcher, die bei Tumorentfernungen entstanden sind. Dabei werden zum Beispiel aus körpereigenen Muskeln und Haut Zäpfchen oder Zungenteile modelliert. „Das gibt mir sehr viele Möglichkeiten, weil ich genau weiß, dass wir mit Prof. Kremer einen fantastischen Spezialisten haben, der vieles wiederherstellen kann“, so Dr. Boehm.
Und trotzdem: Ist der Kehlkopf erst einmal raus — und das kommt leider immer wieder vor — folgt meist ein gewisses soziales Stigma. „Man kann zwar Techniken erlernen, auch ohne Kehlkopf verständlich zu sprechen. Aber man wird es diesen Patienten immer anhören“, erklärt Dr. Boehm. „Und es braucht Disziplin und Wille, daran sehr regelmäßig rund ein Jahr lang zu arbeiten.“ Nicht alle bringen diese Geduld auf.
„Wir haben hier eine gute Arbeitsatmosphäre geschaffen, in der alle kritikfähig sind
und die Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten an erster Stelle steht.“
Dr. Boehms Commitment
Dr. Andreas Boehm hat sich der Fürsorge gegenüber seiner Patienten verpflichtet. „Es ist eine Art Commitment“, sagt er. „Ich kann einfach niemanden von der Strippe lassen. Wir versprechen unseren Patienten, dass wir uns um sie kümmern. Und das hört auch nach der Therapie nicht auf.“ Insbesondere denjenigen, die nicht mehr richtig sprechen können, bietet der Chefarzt Hilfe an – und sie wird auch beansprucht. Für viele seiner Patienten ist das Kopf-Hals-Tumorzentrum auch bei ganz anderen Beschwerden erste Anlaufstelle. „Es kommt immer wieder vor, dass wir hier Personen liegen haben, denen gerade Gallensteine entfernt wurden. Sie wissen einfach, dass wir für sie da sind — egal, bei welchem Anliegen.“ Und so sitzen die Ärzte im Tumorboard zusammen und besprechen wöchentlich die Beschwerden und Nöte ihrer Patienten.