Blinde Frauen haben einen ausgezeichneten Tastsinn – und genau diese Begabung setzt Elvira Häußler bei der Brustkrebsfrüherkennung ein. Nach der Ausbildung zur Medizinisch Taktilen Untersucherin (MTU) bei der Organisation „Discovering Hands“ untersucht die 51-Jährige am Klinikum St. Georg Brüste auf gut- und bösartige Erkrankungen.
Die häufigste Krebserkrankung in Deutschland ist Brustkrebs. Pro Jahr erkranken daran etwa 70.000 Frauen. Elvira Häußler möchte einen Teil dazu beitragen, dass dieser Wert in Zukunft sinkt – durch bessere Angebote in der Vorsorge und Krebsfrüherkennung: „Je eher die Erkrankung erkannt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Deshalb sind regelmäßige Kontrollen so wichtig für Frauen.“ Hier kommt die gebürtige Münchnerin ins Fingerspiel. Sie ist seit ihrer Geburt blind, lernte das Lesen von Braille-Schrift über ihren Tastsinn auf Papier und am Computer an einer Blindenschule. Danach zog es sie zum Studium der Sprachwissenschaften nach England, wo sie anschließend fast ein Vierteljahrhundert lebte. Als sich der Brexit ankündigte, entschied sie sich für die Rückkehr nach Deutschland und fand in Leipzig ihr neues berufliches Glück.
In den besten Händen
Eine Freundin erzählte ihr von der Initiative „Discovering Hands“. Sie setzt sich unter anderem für den Kampf gegen Brustkrebs ein und bildet dafür bis zu sechs blinde und sehbehinderte Frauen pro Kurs zu Medizinisch Taktilen Untersucherinnen (MTU) aus. An einem der einwöchigen Assessment-Kurse nahm auch Elvira Häußler teil. Hier lernte sie wichtige medizinische Fachbegriffe kennen und konnte mit ihren einfühlsamen Tast-Fähigkeiten überzeugen. Und auch sie selbst war überzeugt: „Ich habe nach der bestandenen Prüfung sofort gemerkt, dass das meine neue Berufung ist.“ 2019 erhielt sie ein Stipendium und begann die zehnmonatige MTU-Ausbildung. In dieser Zeit absolvierte sie ein Praktikum am Klinikum St. Georg in Leipzig. „In diesen zwei Wochen habe ich die medizinischen Abläufe und Aufgaben sowie die Ärzte am St. Georg kennengelernt“, blickt sie auf die intensive und lehrreiche Zeit zurück. „Ich war bei verschiedenen Behandlungen und Kontrollen dabei, habe zum ersten Mal in meinem Leben ein Mammographiegerät berührt und einen Ultraschallapplikator in der Hand gehabt.“
Aufklärung nimmt Angst
Seit August 2021 ist Elvira Häußler immer donnerstags von 8 bis 17 Uhr im Klinikum St. Georg im Einsatz und übernimmt bis zu acht Brustbehandlungen. Eine Sitzung dauert zwischen 45 und 60 Minuten. Als Erstes führt sie eine ausführliche Anamnese durch, in der sie mit einer Patientin unter anderem über Vorerkrankungen, gynäkologische Faktoren und die familiäre Krankheitsgeschichte spricht. Diese Informationen sind wichtig für die anschließende Untersuchung, in der Elvira Häußler fünf Papierstreifen mit Abstandsangaben in Blindenschrift auf und neben den Busen klebt. „Mit diesem Koordinatensystem kann ich zentimetergenau bestimmen, was ich in welchem Untersuchungsgebiet ertastet habe“, erklärt die 51-Jährige. Den ersten Hinweis auf eine mögliche Brustkrebserkrankung vermitteln die Lymphknoten. Deshalb beginnt Elvira Häußler dort mit den kreisförmigen, rhythmischen Bewegungen und drückt dabei den Busen gefühlvoll in Richtung Brustkorb. Während sie sich Millimeter für Millimeter vortastet, spricht sie einfühlsam mit der Patientin. „Aufklärung nimmt Angst“, betont Elvira Häußler und ergänzt, dass es vollkommen normal ist, etwas in der Brust zu ertasten: „Jede Brust ist anders, mal enthält sie mehr Drüsengewebe, mal mehr Fett- und mal mehr Bindegewebe.“
Behinderung als Begabung
Sobald sie etwas Knotenartiges ertastet hat, spürt sie noch einmal nach und prüft Größe, Form, Struktur und Verschiebbarkeit. Ihre Befunde gibt die „Erfasserin“ an den Chefarzt weiter, der das Ergebnis mit der Patientin in der Nachbesprechung auswertet und die Diagnose stellt. Die Taktilographie ist hierbei entscheidend, denn MTU’s können fast 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen ertasten, als Ärzte. Elvira Häußlers Behinderung ist für sie eine besondere Begabung. Sie glaubt an die „Macht der gefühlvollen Hände“ und daran, dass erblindete und sehbehinderte Menschen in Zukunft auch andere Krebsarten ertasten können. Bevor es so weit ist, hilft sie mit ihren Untersuchungen Frauen. „Frauen sollten in jedem Alter jährlich eine MTU und die allgemeine Brustkrebsuntersuchung durchführen lassen“, rät sie und empfiehlt, dass jede Frau einmal im Monat – idealerweise nach der Monatsblutung – Brust sowie Achselhöhlen systematisch auf Verhärtungen kontrolliert. Denn 70 Prozent der Frauen könnten eine mögliche Brusterkrankung durch regelmäßiges Abtasten selbst erkennen. Sie brauchen dabei nicht einmal das Feingefühl von Elvira Häußler – denn das ist dann für die Feindiagnostik zuständig.