Die Psychiatrie – Seismograf der Gesellschaft

November 01, 2020
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© Klinikum St. Georg

Der VGP (Verbund Gemeindenahe Psychiatrie) behandelt und berät Menschen mit psychischen oder psychosozialen Problemen. Dabei ermöglichen die drei Ebenen Institutsam­bulanz, Tagesklinik und sozialpsychiatrischer Dienst sowohl eine psychiatrische, psychotherapeutische Behandlung als auch eine psychosoziale Betreuung. Mit dem Psychosozialen Beratungstelefon finden Betroffene zudem einen Ansprechpartner in seelischen oder psychischen Krisen.

 

Herr Dr. Zedlick, was ist der Verbund Gemeindenahe Psychiatrie?

Der VGP ist eine interdisziplinäre Einrichtung des Klinikums St. Georg in Leipzig. Wir sind der erste Ansprechpartner für Personen, die sich in einer Krisensituation befinden und deswegen noch nie in Behandlung waren. Mit unseren fünf Standorten in Leipzig sind wir ganz nah an den Menschen, das ist unsere große Stärke als gemeindenaher Verbund. Dementsprechend wenden sich viele Menschen bei psychischen ­Krisen und Problemen an unser Psychosoziales Beratungstelefon, das immer am Wochenende und an Feiertagen von 8 bis 18 Uhr besetzt ist. Oft überweist ein Haus- oder Nervenarzt einen Patienten an uns, oder es handelt sich um eine komplexe Hilfelage. 

Wie darf man sich eine komplexe Hilfelage vorstellen?

Das ist der Fall, wenn das Gesundheitsamt unserem Sozialpsychiatrischen Dienst den Auftrag gibt, einen Menschen mit psychosozialen Problemen zuhause aufzusuchen. Das kann eine Person sein, die zum Beispiel unter Demenz, Depressionen oder Angststörungen leidet. Ein multiprofessionelles Team aus Ärzten, Sozialpädagogen, Psychologen und Krankenschwestern entscheidet dann, ob eine Behandlungsbedürftigkeit besteht. 

Was geschieht in der Psychiatrischen Institutsambulanz?

Zuerst suchen wir nach der Ursache. Depressionen etwa können durch körperliche Erkrankungen wie Gehirntumore ausgelöst werden. Wenn wir das ausgeschlossen haben, wählen wir den therapeutischen Ansatz und schauen, ob es vielleicht an der Lebensgestaltung liegt, ob es eine Überforderung durch familiäre Probleme, Trennungen, Todesfälle gibt. Das sind ja alles Ursachen, die jeden von uns treffen können. Und dann gibt es noch die Möglichkeit einer geeigneten medikamentösen Therapie. 

Wie helfen Sie Menschen, bei denen der Grund im Lebensumfeld liegt, etwa durch einen Schicksalsschlag?

Wenn eine Beratung nicht ausreicht, empfiehlt sich ein psychotherapeu­tischer Ansatz. Wir vermitteln den Patienten zu einem Therapeuten oder nehmen ihn an einem unserer Standorte der Tagesklinik auf. 

Welche Therapieangebote gehören zu dieser strukturierten Behandlung? 

Die ganze interdisziplinäre Bandbreite: Integrative Psychotherapie mit verhaltens- und tiefenpsychologischen Elementen, Bewegungstherapie, Entspannungsverfahren, Gestaltungstherapie, Mal- und Musiktherapie, Physiotherapie, Bewegungsgruppen mit kommunikativem Schwerpunkt und auch Freizeitaktivitäten sowie das Training der sozialen Kompetenz. Am wichtigsten ist, dass wir die Behandlung an die individuellen Bedürfnisse des Betroffenen anpassen.

Werden in Zukunft mehr Menschen von psychischen Erkrankungen betroffen sein?

Da gibt es keine eindeutige Prognose. Einerseits könnten Viele durch die Digitalisierung vereinsamen, andererseits können wir mit Videosprechstunden und Chats Kontakt zu Menschen aufbauen, die wir vorher nicht erreicht haben. Vielleicht sind wir nach dem Corona-Lockdown auch nachdenklicher geworden bei der Frage, wohin wir uns entwickeln wollen, was uns als Gesellschaft wichtig ist. Die Psychiatrie ist also ein guter Seismograf für gesellschaftliche Probleme.

Worunter leiden denn Ihre Patienten derzeit am häufigsten?

An depressiven Anpassungsstörungen. Im Alter kommen Demenzerkrankungen hinzu. Bei den jüngeren Patienten haben wir es häufig mit Psychosen in Kombination mit Drogenkonsum zu tun. Und natürlich ist Vereinsamung eine Ursache vieler Erkrankungen.

Wie kann man psychischen Erkrankungen vorbeugen? 

Man kann innerhalb der Stadt Oasen und eine gute Balance zwischen Anspannung und Entspannung finden. Dafür muss man wissen, was einem gut tut. Also nicht zu zehn Veranstaltungen pro Woche rennen, sondern lieber einen guten Nacht-Schlaf-Rhythmus einhalten und in die Arbeit Erholungspausen einbauen. Und es ist wichtig, dass man sich nicht zurückzieht und keine Hilfe ablehnt, obwohl man merkt, dass man das Problem nicht selbst bewältigen kann. Man sollte mit Menschen, die einem guttun, darüber reden – das muss aber nicht gleich ein Psycho­loge sein.

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