„Wir bündeln unsere Erfahrung für eine bessere Behandlung der Patienten.“
Menschen, die die Diagnose Hirntumor bekommen, rechnen oft mit dem Schlimmsten. Und tatsächlich kann diese Krebserkrankung innerhalb kürzester Zeit zu gesundheitlichen Einschränkungen bis hin zu Pflegebedürftigkeit und Tod führen. Glücklicherweise machen bösartige Hirntumoren nur zwei Prozent aller Krebserkrankungen aus. Seit 2021 gibt es im Klinikum St. Georg ein Neuroonkologisches Zentrum. Dieses bündelt alle Fachabteilungen im Haus, die für eine optimale neuroonkologische Behandlung notwendig sind. Der Leiter, Dr. Oliver Sorge, gibt einen umfassenden Einblick in die moderne Behandlung von Hirntumoren und die Arbeit des Zentrums.
Was sind die neuroonkologischen Schwerpunkte der Neurochirurgie am Klinikum St. Georg?
In der Regel beschäftigt sich die Neurochirurgie in diesem Bereich mit der mikrochirurgischen Entfernung von Hirntumoren. Das oberste Gebot ist dabei natürlich die vollständige Entfernung, ohne dass wir dem Patienten einen Schaden zufügen. Bei Operationen am Gehirn arbeiten Sie auf engstem Raum.
Welche Hilfsmittel unterstützen Sie dabei?
Ja, die Lage und die Größe der Tumoren sorgt manchmal dafür, dass wir diese nicht vollständig entfernen können. Um aber so viele wie möglich operieren zu können, arbeiten wir beispielsweise mit der Technik des Neuromonitorings. So überwachen wir im Prinzip während der Operation permanent alle gefährdeten Nervenbahnen und damit alle Bewegungs- und Gefühlsfunktionen der Patienten. Und wenn Tumoren im Sprachzentrum auftreten, operieren wir sogar im Wachzustand. Dieser Eingriff nennt sich Wachkraniotomie.
Das heißt, Sie operieren dann am offenen Gehirn?
Genau. So haben wir jederzeit Gelegenheit, schon während der Operation alle Funktionen des Sprachzentrums zu prüfen.
Hat der Patient keine Schmerzen, wenn er während der Operation wach ist?
Das ist kein Problem, weil das Gehirn selbst keine Schmerzwahrnehmung hat. Nur bei der Durchführung des operativen Zugangs zum Tumor, sprich bei der Behandlung der Haut, des Schädels und der Hirnhaut, wird der Patient narkotisiert und dann wieder wach gemacht.
Klingt nach einer großen Herausforderung für die Anästhesisten?
Ja, unsere Spezialisten in der Neuroanästhesie haben spezielle Narkosemittel, um den Übergang vom Wach- in den Schlafzustand minutengenau steuern zu können.
Wie groß ist der Aufwand für die Vorbereitung einer solch großen Operation?
Dabei arbeiten schon sehr viele Disziplinen eng zusammen. Im Schnitt bedeutet die Operation eines Tumors am Sprachzentrum, neben den Meetings der Tumorkonferenz, mindestens eine Stunde Vorbesprechung mit allen Beteiligten im engeren Team. Dabei werden alle Etappen sehr genau besprochen.
Wie entstehen eigentlich Hirntumoren, und gibt es Möglichkeiten, diese früh zu erkennen?
Die meisten primären Hirntumoren entwickeln sich aus den Stützzellen, den sogenannten Gliazellen. Deshalb nennen wir diese auch Gliome. Bösartige Hirntumoren sind selten und treten meist entweder im Kindesalter oder zwischen 40 und Mitte 60 auf. Ein vorbeugendes Screening für Hirntumoren gibt es nicht. Es wäre auch nicht sinnvoll, da diese in den allermeisten Fällen ohne erkennbare Ursachen entstehen.
Was sind die Symptome für einen Hirntumor?
Kopfschmerzen allein sind nicht hinweisgebend. Aber wenn diese Schmerzen im Zusammenhang mit anderen Symptomen, wie beispielsweise epileptischen Anfällen, auftreten, können das entscheidende Hinweise auf einen Tumor im Kopf sein.
Welche neuen Behandlungsmethoden wenden Sie außerdem noch an und was sind die Vorteile dieser?
Wir setzen zum Beispiel die intraoperative Strahlentherapie ein. Das ist eine Behandlungsmethode, bei der direkt nach der Entfernung des Tumors, also noch während der Operation, die Tumorregion bestrahlt wird. Unserer Erfahrung nach ist der Effekt sehr groß, weil wir hier die Möglichkeit haben, mit hoher Energie und sehr zielgenau lokal zu bestrahlen, ohne die gesunden Regionen zu gefährden.
Dr. Sorge, das Neuroonkologische Zentrum am Klinikum St. Georg ist momentan noch ein Transitzentrum. Was bedeutet das genau?
Um von der DKG als vollwertiges Neuroonkologisches Zentrum zertifiziert zu werden, müssten wir 100 Neuerkrankungen an primären Hirntumoren pro Jahr behandeln. Mit circa 90 Fällen liegen wir knapp darunter und gelten daher noch als Transitzentrum.
Aber alle anderen Bedingungen erfüllen Sie bereits?
Ja, alle geforderten Fachrichtungen arbeiten bereits intensiv zusammen und treffen sich regelmäßig in den Tumorkonferenzen. Auch erfüllen wir bereits alle technischen und baulichen Voraussetzungen. Gefordert werden da von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) beispielsweise OP-Räume für neurochirurgische Eingriffe, eine Intensivstation, ein Labor und eine Radiologie vor Ort.
Krebs, vor allem in fortgeschrittenen Stadien, ist ja nicht immer heilbar. Wie gehen Sie persönlich, aber auch im Team, mit dem Tod eines Patienten um?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Gerade wenn wir Patienten von der Erstdiagnose bis zum Lebensende begleiten, geht uns das allen sehr nahe. Betroffen macht es uns vor allem, wenn die Behandlung, die wir zusammen besprochen haben, nicht so greift wie erwartet. Für uns ist jedes Einzelschicksal wichtig. Ist ein Patient verstorben, besprechen wir die Ursachen in sogenannten Morbiditätskonferenzen und reflektieren gemeinsam und fachübergreifend jeden einzelnen Schritt. Allein mit Kollegen darüber zu sprechen, schützt uns oft davor, solche Schicksale mit nach Hause zu nehmen.
Wie sieht die Zukunft des Neuroonkologischen Zentrums aus?
Wir arbeiten daran, ein vollwertiges neuroonkologisches Zentrum zu werden. Dazu brauchen wir, wie gesagt, über 100 Neuerkrankungen im Jahr. Das klingt wenig, ist aber bei einer Erkrankung, die nicht so häufig vorkommt, schon relativ viel. Außerdem investieren wir kräftig in neue Technik. Wir bekommen zum Beispiel in Kürze ein hochmodernes Mikroskop mit automatischer Tumorerkennung.