In Deutschland werden jährlich ca. 60.000 Kinder zu früh geboren. Eines von zehn Neugeborenen ist demnach ein sogenanntes „Frühchen“, weil es vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren wird. Damit sind Frühgeborene die größte Kinderpatientengruppe Deutschlands. Die Frage ist heute nicht mehr, „ob“ die kleinen Frühgeborenen, sondern „wie“ sie überleben und was aus ihnen wird. Dabei beschäftigt Neonatologen, Fachärzte mit Schwerpunkt Früh- und Neugeborene, besonders die Gruppe der Frühgeborenen mit extrem niedrigem Geburtsgewicht (unter 1.000 Gramm) bzw. mit extremer Unreife (unter 28 Schwangerschaftswochen).
Die Überlebensraten von Extremfrühgeborenen haben in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung genommen: Ende der 1970er waren es noch unter 30 Prozent, in den 1990ern schon mehr als 70 Prozent und heute fast 90 Prozent. Eine intensive Unterstützung lebenswichtiger Körperfunktionen (Atmung, Kreislauf, Ernährung) erfolgt solange, bis Reifung und Wachstum ein stabiles Niveau erreicht haben. Aber ein Frühgeborenes stellt nicht nur enorme Anforderungen an die Neonatologie, sondern auch an die Psyche der Eltern. „Wichtig für uns ist, dass wir mit den Eltern und den Geburtshelfern bereits vor der Geburt sprechen und sie auf die bevorstehende Zeit vorbereiten können. Die wenigsten Eltern haben Erfahrungen mit einer Intensivstation, wo ihre Kinder an zahlreichen Geräten mit optischen und akustischen Signalen verkabelt sind“, betont die Abteilungsleiterin der Neonatologie am Perinatalzentrum Level 1 im Klinikum St. Georg, Dr. Silke Hennig.
Beste Chancen dank moderner Medizin und Pflege
„Oscar ist ein Beispiel für ein Extremfrühgeborenes mit dramatischer Geburt, aber sehr gutem Verlauf. Besteht akute Lebensgefahr für Mutter oder Kind, muss die Schwangerschaft vorzeitig beendet werden. Bei Oscar waren sogar beide in Gefahr“, erinnert sich Dr. Hennig. Monika M. wurde Ende Februar 2022 in der 22. Schwangerschaftswoche aufgenommen. Die Fruchtblase war vorzeitig geplatzt. Noch eine Woche konnte das Team der Gynäkologie und Geburtshilfe die Geburt hinauszögern. Bei ansteigenden Entzündungswerten im Blut von Monika M. war ein Kaiserschnitt letztlich unumgänglich, um Mutter und Kind zu retten. Mit einem Geburtsgewicht von 560 Gramm, einer Länge von 30 Zentimetern und einem Kopfumfang von 21 Zentimetern kam Oscar nach nur 23 Wochen und 2 Tagen zur Welt. „Das war gut so, denn der kleine Junge hatte sich im Bauch der Mama infiziert und war dort nicht mehr gut aufgehoben“, erklärt die Expertin. Alle sehr kleinen Frühgeborenen werden im Inkubator, auch „Brutkasten“ genannt, versorgt. Dort ist es feucht und warm. Mit anfangs 80 Prozent Luftfeuchte und 37°C versucht man, die Bedingungen im Mutterleib möglichst gut nachzustellen. Da die Haut noch sehr empfindlich ist, muss jede Verletzung vermieden werden. Das Frühgeborene wird eng überwacht. Täglich werden die Gesundheitsdaten überprüft, wie zum Beispiel Herz- und Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, Temperatur und Atemmuster, um Gefahren rechtzeitig zur erkennen.
Zwei Monate lag Oscar im Inkubator, bevor er stabil genug war, um in das Wärmebett umzuziehen. Das größte Problem bei Frühgeborenen stellt die Unreife der Organsysteme dar. Besonders Lunge und Gehirn reifen erst in den letzten Schwangerschaftswochen. Oscars Lunge war sehr unreif und musste für insgesamt drei Monate unterstützt werden. Durch die Unreife des Gehirns hatte Oscar Atemaussetzer, die aber gut mit Coffein behandelt werden konnten. Wichtig war, dass Oscar wächst und kräftig wird, um selbstständig zu trinken. Er benötigte für insgesamt 30 Tage eine spezielle Ernährungslösung, die über die Vene verabreicht wurde. Mit einer Reife von 31 Schwangerschaftswochen fingen die Intensivschwestern mit dem Saugtraining über einen Stieltupfer mit Muttermilch und Anlegen an die Brust an und mit 35 Schwangerschaftswochen fing Oscar an, selbstständig zu trinken. Die Magensonde brauchte er dreieinhalb Monate. Danach hatte Oscar mit inzwischen 3.128 Gramm genügend Kraft, um jeden Tag gut und ausdauernd an der Brust zu trinken. Zu diesem Zeitpunkt konnte Monika M. mit ihm gemeinsam auf die Neo-Nachsorgestation ziehen. „Ich bin froh, dass es mit dem Stillen klappt“, sagt Monika M. „Auch heute, drei Monate nach dem stationären Aufenthalt im Klinikum wird Oscar noch voll gestillt“, erklärt die erfahrene Mutter von vier Kindern weiter. Auch Oscars Schwester kam zu früh zur Welt, aber nicht so früh wie Oscar. „Natürlich hofft man, dass die Schwangerschaft gut verläuft und das Kind bis zum Entbindungstermin im Bauch bleibt. Ich bin dankbar für die Möglichkeiten, die die Medizin heutzutage bietet und für die wundervolle Arbeit, die das Team der Neonatologie leistet. Sein Kind in dieser Situation zu sehen, kostet viel Kraft. Ich habe versucht, ruhig zu bleiben, damit sich meine Ängste nicht auf meinen Sohn übertragen. Der tägliche Kontakt und später dann auch das Kuscheln waren so wichtig für uns beide“, beschreibt die 37-Jährige ihre Gefühle. Jeden Tag kam Monika M. zum Kuscheln, Füttern und Windelnwechseln, immer unterstützt durch die erfahrenen Pflegekräfte. „Wir binden die Eltern von Anfang an ein und ermutigen sie, so viel wie möglich bei ihren Kindern zu sein und auch den körperlichen Kontakt zu suchen. Auch nach der Entlassung behalten wir die Entwicklung der kleinen Patienten über unsere Früh- und Neugeborenensprechstunde im Blick“, so Hennig. Im Juli 2022, nach fünf Monaten im Klinikum St. Georg, war es endlich so weit. Mit einer Reife von 40 Schwangerschaftswochen, einem stolzen Gewicht von 3.464 Gramm, einer Länge von 51 Zentimetern und einem Kopfumfang von 36 Zentimetern konnte Oscar gesund nach Hause zu seinen drei Geschwistern entlassen werden.