Schaufensterkrankheit – Wenn das Gehen zur Qual wird

Mai 01, 2024
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Chefarzt der Abteilung für Gefäß- und Endovaskuläre Chirurgie, Dr. Adrian Nicula, mit einer Kollegin

© Klinikum St. Georg

Dr. Adrian Nicula leitet die Abteilung für Gefäß- und Endovaskuläre Chirurgie der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie am Klinikum St. Georg. Der erfahrene Chirurg gibt im Interview einen Einblick in seine Arbeit und erklärt, was es mit der sogenannten „Schaufensterkrankheit“ auf sich hat.

Als Dr. Nicula im Oktober 2022 die Abteilung für Gefäßchirurgie übernahm, stellte er ein völlig neues Team zusammen. Seit April 2023 gehören sechs Ärzte und zwei Gefäßassistentinnen dazu. „Wir wollen mehr Akzeptanz für die Gefäßchirurgie am Standort erreichen“, betont Dr. Nicula und ergänzt: „Unser Antrieb ist dabei das Wohl der Patienten. Ihre Gesundheit steht für uns an erster Stelle.“ Alle für einen Dabei setzen die Ärzte der Gefäßchirurgie des Klinikums St. Georg auf interdisziplinäre Zusammenarbeit. Sie besprechen und operieren einzelne Fälle fächerübergreifend, beispielsweise mit der Neurologie, Diabetologie, Unfallchirurgie, Nephrologie oder der Plastischen Chirurgie. „Vor allem bei besonders komplexen Eingriffen, wie zum Beispiel freien Lappenplastiken durch die plastische Chirurgie, müssen wir uns im Vorfeld sehr genau mit den Kollegen und Kolleginnen besprechen“, erklärt Dr. Nicula. Die freie Lappenplastik ist eine Form der Transplantation, bei der gesundes körpereigenes Gewebe der zu behandelnden Person abgelöst und mit dem kompletten Gefäßsystem an der defekten Stelle wieder angeschlossen wird. Dieser Eingriff verschließt chronische Wunden und verhindert so Amputationen.

Offene und Endovaskuläre Gefäßchirurgie

Chefarzt Dr. Nicula verfügt über einen breiten Erfahrungsschatz in der Gefäßchirurgie. Der 37-jährige war vor seinem Start im Klinikum St. Georg als Leitender Oberarzt der Klinik für Gefäß- und Endovaskularchirurgie und stellvertretender Klinikdirektor am Klinikum Kassel angestellt. Dort hat er einige Jahre zusammen mit Prof. Dr. Achim Neufang, einer Ikone der deutschen Gefäßchirurgie, operiert und sich zu einem Experten der modernen endovaskulären, aber auch der traditionellen offenen Gefäßchirurgie entwickelt. Insbesondere bei Diabetikern mit chronischen Wunden an den Füßen bestehen wenige Therapieoptionen. Dr. Nicula ist spezialisiert auf die Bypassanlage mit der körpereigenen Vene auf die Unterschenkel- oder sogar Fußschlagadern. Somit kann die Durchblutung am Fuß häufig soweit verbessert werden, dass eine Amputation des Beines vermieden werden kann. Die endovaskuläre Gefäßchirurgie funktioniert katheterbasiert und minimalinvasiv. Dabei werden über Punktionen Drähte, Ballons oder kleine Gefäßstützen, sogenannte Stents, eingeführt. Sie sollen enge oder verschlossene Blutgefäße öffnen oder weiten. Bei diesen Methoden ist die Belastung für den Körper um einiges geringer als bei offenen Behandlungsmethoden. Letztere kommen in den meisten Fällen nur noch in der Notfallchirurgie oder bei Versagen der endovaskulären Behandlung zum Einsatz.

Was ist die „Schaufensterkrankheit“?

„Damit ist die periphere arterielle Verschlusskrankheit, kurz pAVK, gemeint. Das ist eine Durchblutungsstörung, die durch eine Verengung oder den Verschluss der beinversorgenden Schlagadern entsteht“, erklärt Dr. Nicula. Betroffen davon sind vor allem Raucher, die älter als 50 Jahre alt sind und teilweise Patienten mit Altersdiabetes. Der Name „Schaufensterkrankheit“ hat sich etabliert, weil die Betroffenen schnell mit Krämpfen in der Gesäß-, Oberschenkel- und Wadenmuskulatur zu kämpfen haben und deshalb oft schon nach kurzen Strecken pausieren müssen. Der Grund ist, dass die Muskeln durch die Verengung oder Verstopfung nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden können.

Behandlung eines betroffenen Beines

© Klinikum St. Georg

Wie kann die „Schaufensterkrankheit“ behandelt werden?

Um das Stadium der Krankheit einschätzen zu können, richten sich europäische Gefäßchirurgen nach der Fontaine-Klassifikation. Die Einteilung des französischen Chirurgen René Fontaine betrachtet dabei vier Stadien. „Im ersten Stadium stellen wir meist bei einer Ultraschalluntersuchung eine Verengung fest. Aber wir behandeln keine Bilder, wir behandeln Patienten. Deshalb raten wir ihnen in erster Linie zu einer Umstellung ihrer Gewohnheiten und tun sonst zunächst nichts“, erklärt Dr. Nicula und empfiehlt den Betroffenen im Grunde mit dem Rauchen aufzuhören und sich mehr zu bewegen. Meist reicht ein regelmäßiges Gehtraining, um die Symptome zu lindern. Dr. Nicula und sein Team operieren in der Regel erst ab Stadium III. Hier sind die Gefäße der Extremitäten schon stark verstopft. Die Patienten haben Schmerzen beim Gehen und bekommen nachts Krämpfe. Im Endstadium der Erkrankung heilen Wunden an den Füßen oder Unterschenkeln nicht mehr von selbst ab. Ab diesem Punkt muss endovaskulär oder offen operiert werden. „Eine pAVK im Stadium IV hat oft eine schlechtere Prognose als ein Lungenkrebs im Endstadium. Da müssen wir dann sofort handeln, um drohende Amputationen zu verhindern.“

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