Das Leben von Christoph Mählmann aus Eilenburg stand wegen eines Immundefekts auf der Kippe. Ein Screening hilft jetzt bei der Früherkennung.
Christoph Mählmann war gerade 15 Monate alt, als sein kleiner Körper nicht mehr funktionieren wollte. Ständige Infekte hatten ihn geschwächt. Lungenentzündung, Bronchitiden, Mittelohrentzündung, zwischenzeitlich bestand sogar der Verdacht auf Leukämie. Ein halbes Jahr verbrachte der kleine Junge in einer Klinik. Weil die Ärzte ratlos waren, bangten Christophs Eltern um sein Leben. Die Kinderärztin überwies die Familie schließlich in das Klinikum St. Georg in Leipzig. Ein Glücksfall, denn die Mediziner dort hatten die richtige Vermutung. Sie entdeckten einen Defekt in Christophs Immunsystem. Sein Körper produzierte keine B-Zellen, dadurch fehlten ihm wichtige Antikörper, die Infekte abwehren können. Der Fachausdruck heißt Agammaglobulinämie. „Wenn die Ärzte das damals nicht erkannt hätten, würde ich heute vielleicht nicht mehr leben“, sagt Christoph Mählmann, der inzwischen 27 Jahre alt ist und ein ganz normales Leben führt. Wie der junge Eilenburger leiden in Deutschland etwa 100.000 Menschen unter angeborenen Immundefekten. Damit gehören sie zu den seltenen Erkrankungen. „Das Immunsystem schützt den menschlichen Organismus vor Viren, Bakterien und anderen Mikroorganismen. Bei Menschen mit einem primären, also einem angeborenen, Immundefekt kommt es zu Fehlfunktionen. Die Patienten sind Infektionen praktisch schutzlos ausgeliefert“, erklärt Professor Michael Borte, Direktor des ImmunDefektCentrum Leipzig (IDCL) am Klinikum St. Georg. Das Zentrum gehört zu den fünf größten bundesweit. Rund 350 Patienten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nordbayern werden hier regelmäßig behandelt. Weil Immundefekte nach wie vor wenig bekannt sind, wird die Diagnose oft erst sehr spät gestellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Symptome sehr unspezifisch sind. „Weitverbreitet sind häufige, schwer verlaufende Infektionen der oberen und unteren Atemwege sowie hoch fieberhafte Erkrankungen“, sagt Borte. „Wenn Kleinkinder mehr als sechs bis acht schwere Infektionen im Jahr erleiden, ist das ein Alarmsignal. Auch Hautveränderungen oder Infektionen mit eher unüblichen Erregern können bereits bei Neugeborenen auftreten“, sagt der Mediziner. Feststellen lassen sich Immundefekte anhand einer Blutuntersuchung.
Kampf gegen Bruton
Die wichtigsten Aufgaben der körpereigenen Abwehr übernehmen neben den weißen Blutkörperchen (Leukozyten) sogenannte T-Lymphozyten und B-Lymphozyten. Liegt ein Defekt vor, produziert der Körper zu wenige oder gar keine der beiden Abwehrstoffe. Am häufigsten tritt das Variable Immundefektsyndrom (CVID) auf, bei dem die Produktion von Schutzstoffen (Immunglobulinen) reduziert ist. Wenn gar keine B-Zellen vorhanden sind, produziert der Körper überhaupt keine Immunglobuline. Darunter leidet auch Christoph Mählmann. Genauer handelt es sich bei ihm um Morbus Bruton, die Erkrankung trifft nur Jungs. Als die Ärzte bei ihm damals die Diagnose stellten, war das für die Eltern ein Schock. Gleichzeitig waren sie aber auch erleichtert, denn nun konnten die Ärzte ihm gezielt helfen. Christoph wurden Immunglobuline intravenös verabreicht. Von Tag zu Tag ging es ihm besser. „Danach mussten wir alle vier Wochen in die Klinik nach Leipzig, und ich hing jedes mal vier Stunden am Tropf“, erzählt er. Im Jahr 2002 gehörte der Eilenburger dann zu den ersten Patienten in Deutschland, bei denen die subkutane Immunglobulin- Substitutionstherapie angewandt wurde. Das Medikament floss nun nicht mehr in die Vene, sondern konnte in das Unterhautfettgewebe am Bauch oder Oberschenkel gespritzt werden. „Anfangs hat meine Mutter das übernommen. Seit ich zehn Jahre bin, mache ich das selbst“, sagt Mählmann. Einmal pro Woche muss er sich nun Immunglobuline spritzen.
„Die Selbsttherapie ermöglicht Patienten eine deutlich höhere Lebensqualität“, so Borte. Die gefährlichste Erkrankungsform des Immunsystems ist der Schwere kombinierte Immundefekt (SCID). Diese Patienten produzieren weder B-Zellen noch T-Zellen. Die Veranlagung dazu wird in den meisten Fällen von den Eltern weitergegeben. „Der SCID kommt relativ selten vor, kann für Neugeborene jedoch binnen weniger Tage lebensbedrohend sein“, sagt Borte. Betroffene Babys können aber eine Stammzellentransplantation erhalten – das defekte Immunsystem wird praktisch durch ein gesundes ersetzt. Seit August 2019 ist die Untersuchung auf SCID ein Bestandteil des Neugeborenen- Screenings, das bei allen Kindern zwischen dem dritten und fünften Lebenstag durchgeführt wird. Maßgeblichen Anteil daran hatte auch das IDCL am Klinikum St. Georg in Leipzig. „In einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Karolinska- Institut in Stockholm wurde das Screening entwickelt und getestet. Wir haben viele Jahre dafür gekämpft“, sagt Borte. „Die Kinder zeigen bei der Geburt eben noch keine Krankheitszeichen, versterben aber innerhalb des ersten Lebensjahres, wenn die Erkrankung nicht oder zu spät erkannt wird. Mit dem Screening haben wir nun die Möglichkeit, den Kindern zu helfen, bevor die Krankheit ausbricht.“ Schätzungen gehen von bis zu 30 bis 40 betroffenen Babys jährlich aus. Wie alle Patienten mit einem angeborenen Immundefekt ist Christoph Mählmann auf Medikamente angewiesen, die aus Blutplasma hergestellt werden. Dies stammt von Spendern – und enthält somit Antikörper, die die Spender selbst nach Impfungen oder Infektionen aufgebaut haben. Allerdings ist die Spendenbereitschaft seit Beginn der Pandemie stark zurückgegangen. „Das hat uns vor große Probleme gestellt. Es war zeitweise schwierig, neue Präparate zu bekommen. Mittlerweile pendelt es sich wieder ein“, sagt Mählmann. Er ist Mitglied in der Patientenorganisation Deutsche Selbsthilfe für angeborene Immundefekte (dsai) und Ansprechpartner für Interessierte in Mitteldeutschland. Die dsai veranstaltet auch regelmäßig Seminare für Ärzte, um über angeborene Immundefekte aufzuklären. Denn je eher die Erkrankung erkannt wird, umso größer sind die Chancen einer erfolgreichen Therapie. Etwa 350 Gendefekte als Krankheitsursache sind bereits erforscht. Frauen sind ebenso betroffen wie Männer. Immer wieder entwickeln Menschen auch sekundäre Immundefekte. Diese werden erst im Laufe des Lebens erworben, etwa nach Krebserkrankungen, bei Diabetes oder durch Nebenwirkungen von Medikamenten.
Organe versagen ihren Dienst
Michael Borte erinnert sich an einen Patienten, der bereits Mitte 50 war und eine Odyssee hinter sich hatte mit schwersten pulmonalen Infektionen, Strukturveränderungen in der Lunge und Einschränkungen bei der Atemkapazität. „Er hatte eine Antikörperbildungsstörung und die Behandlung mit Immunglobulinen half ihm. Wenn allerdings so wie in diesem Fall schon Organschäden eingetreten sind, sind diese leider nicht mehr reversibel“, sagt der Mediziner. Christoph Mählmann muss heute alle drei Monate zur Kontrolle ins Zentrum nach Leipzig. Mittlerweile weiß er, dass er die Veranlagung für die Erkrankung von seiner Mutter geerbt hat. Und auch er hat sie an seine kleine Tochter weitergegeben. Das hat ein Test ergeben. Ausbrechen wird die Erkrankung bei ihr nicht, allerdings besteht das Risiko, dass sie diese später an ihre eigenen Kinder weitergibt.
Text: Sächsische Zeitung vom 2. März 2022, Kornelia Noack Alle Rechte vorbehalten.
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