Ein Blog, eine Botschaft: Nicht aufgeben

Januar 18, 2019
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Anastasiya Lobanova ist 29 – und schreibt um ihr Leben

Sie wollte durchstarten, als die Schubumkehr einsetzte. Anastasiya Lobanova war 25, als bei ihr ein extrem seltener Hirntumor diagnostiziert wurde. Mitten in den Prüfungen für ihren Master-Abschluss, in der Planung ihrer beruflichen Selbstständigkeit. Stattdessen Halt auf freier Strecke. Operation in Leipzig, Bestrahlung in Heidelberg, Abschied von Alltäglichkeiten und zurück in die Obhut der Eltern. Heute kämpft die junge Frau mit den Spätfolgen der Therapie. Eine große Stütze sind ihre Eltern und Freunde, das onkologische und psychotherapeutische Netzwerk des Klinikums St. Georg sowie das Feedback auf ihren Blog Tallgirlstory.

„Es gibt immer einen Ausweg. Man muss ihn nur finden.“ Weise Worte. Alten Menschen nimmt man solche Sätze ab. Doch die Frau, die sie ausspricht, ist 29 Jahre jung. Das Sprechen fällt Anastasiya Lobanova gerade schwer. Sie kämpft mit den Spätfolgen einer Bestrahlung. Die linke Hälfte ihres Gesichts ist gelähmt, ihr Gleichgewichtssinn gestört. Die alles zerstörenden Schwerionen und Protonenstrahlen haben nicht nur ihren extrem seltenen und widerstandsfähigen Tumor zerstört, sondern auch gesundes Gewebe. Die daraus entstandene Nekrose (Zellen, die so stark geschädigt werden, dass sie absterben und zerfallen) hat einen partiellen Funktionsverlust des Zentralnervensystems zur Folge. Mit entsprechenden Folgen: „Mir fällt gerade das Laufen, Artikulieren, Hören, Schmecken, Konzentrieren schwer. Ich muss mir in der Physiotherapie und Logopädie alle Fertigkeiten, die ich mal hatte, wieder erarbeiten.“

Mit einem unerschütterlichen Willen und einer unglaublichen Beherrschtheit macht Anastasiya Lobanova Schritt für Schritt. Der jahrelange Leistungssport kommt ihr jetzt zugute. Wer fällt, steht auf. Wer gewinnen will, muss kämpfen … Rhythmische Sportgymnastik war die Disziplin der 1,85 Meter großen Athletin. Anastasiya Lobanova war ein Ass. Sie hatte Erfolg, trainierte den Nachwuchs, machte sich als Kampfrichterin einen Namen, studierte Sportwissenschaften und träumte den Traum von einem eigenen Sportclub.

„Als ich Anastasiya Lobanova im Juli 2015 kennenlernte, hatte ich eine junge Frau vor mir, die sportlich-koordinativ auf höchstem Niveau war. Sie klagte über eine Hörminderung und Gleichgewichtsstörungen“, sagt Dr. Lars Rödel, Leitender Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie am Klinikum St. Georg. Der Befund habe ihn erschüttert: ein ausgeprägt raumfordernder Tumor – 5,1 mal 3,2 mal 3,4 Zentimeter groß –, der bereits die Schädelbasis im Bereich der Pyramidenspitze zerstört hatte. Ein Chondrosarkom – ein bösartiger Knochentumor. Schnell wachsend. Dr. Lars Rödel operierte Anastasiya Lobanova. Sein erster Fall dieser Art. „Ich erinnere mich, wie extrem tapfer und gefasst sie den Befund aufgenommen hat. Vor allem, als ich ihr sagen musste, dass ich den Tumor nicht vollständig resezieren kann.“ Wieso ich? Die einzige Frage, die Anastasiya Lobanova stellte.

Genmutationen sind ein Risikofaktor für diese Krebsart. „Die erste Frage, die mir der Chefarzt gestellt hat, war, ob unsere Familie möglicherweise aus der Ukraine kommt, und ob wir in der Nähe von Tschernobyl gewohnt haben. Diese Frage werde ich wohl nie vergessen. Da verbindet man die Ukraine nicht mit einer schönen Landschaft, sondern mit einem Schrecken.“ Anastasiya Lobanova ist am 12. Oktober 1989 in Kiew geboren – rund einhundert Kilometer von Tschernobyl entfernt. Für Anastasiya Lobanova und ihre Eltern ist klar, dass der Reaktorunfall im Jahr 1986 eng mit ihrem Schicksal verknüpft ist. Dass die Strahlung ihren Gen-Code verändert hat. Das macht Wut. Was Anastasiya Lobanova aber braucht, ist Mut. Ihn bekommt sie von zahlreichen Lesern ihres Blog zugesprochen, den sie seit mehr als drei Monaten im Internet mit Erinnerungen, Tipps und Anekdoten speist. Das Schreiben ist Anastasiya Lobanovas Ausweg. „Mit meinem Blog möchte ich nicht nur Freunden und Verwandten eine zentrale Anlaufstelle zwecks Informationen geben, sondern auch anderen Betroffenen mit gleicher oder ähnlicher Symptomatik Hoffnung schenken und die Möglichkeit bieten, sich mit mir auszutauschen.“ Den Blog begreift Anastasiya Lobanova als Tagebuch, als Orientierungshilfe für ihre widersprüchlichen Gefühle, als Dokumentation, die bleibt. Für ihre Eltern, die sie zu jeder Behandlung begleiten. Für ihre Freunde.

Wie lange ihr bleibt? „Ich lebe momentan von Magnetresonanztomografie zu Magnetresonanztomografie, von Quartal zu Quartal. Meine Befunde sind gerade nicht gut. Die Ärzte können und sollen mir auch nichts versprechen. Ich setze mich lieber mit Fakten auseinander als mit irgendwelchen Fantasien.“ Sagt sie. Schweigt und spricht. „Die Tage im Krankenhaus haben mir die nötige Zeit gegeben, über mein Leben etwas nachzudenken. Ich hatte oft Panik und Sorgen wegen Kleinigkeiten gehabt, wie zum Beispiel einer Prüfung. Nach der OP hatte ich einen neuen Blick auf viele Dinge. Mir war auf einmal klar: Das Einzige, was wirklich wichtig ist, ist unsere Gesundheit und die unserer Familien sowie Freunde. Und alles andere ist es nicht wert, sich zu stressen. Zum ersten Mal war mir auch klar, wie schnell eigentlich das Leben zu Ende sein kann.“

Eine Freundin machte Anastasiya Lobanova vor kurzem auf die Bedeutung ihres Vornamen aufmerksam: Er komme aus dem Altgriechischen und bedeute so viel wie Auferstehung oder Wiedergeburt. „Sie meinte, er passt zu mir und da hat sie absolut Recht.“

Blog
Den Blog von Anastasiya Lobanova – wunderbar illustriert von ihrem Vater Anton – findet man im Internet unter tallgirlstory.wordpress.com. Auch auf Twitter & Instagram kann man ihr folgen.
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