Zwischen Bewusstsein und Schlaf

Schätzungsweise 10.000 Menschen in Deutschland leben im Wachkoma.

Ein Syndrom, das in der Medizin immer noch Rätsel aufwirft. Noch immer weiß man nicht, ob und wie bewusst Wachkoma-Betroffene ihre Umwelt wahrnehmen. Klar ist nur, dass Patienten auch nach mehreren Jahren noch Entwicklungsfortschritte machen oder sogar wieder aufwachen. Die umfassende soziale und therapeutische Betreuung in entsprechenden Einrichtungen, wie dem Pflegeheim des Klinikums St. Georg, ist deswegen umso wichtiger.

2001 eröffnete das Pflegeheim für Menschen im Wachkoma auf dem Klinikgelände des St. Georgs. Acht Doppel- und vier Einzelzimmer bieten insgesamt Platz für 20 Bewohner. Patrick Seidel war der erste Bewohner. Der junge Mann erlitt im Oktober 2000 einen Autounfall, 30 Minuten lang war die Sauerstoffzufuhr zum Hirn unterbrochen bis der Krankenwagen eintraf. Seit dem befindet sich der heute 36-Jährige im wachkomatösen Zustand. Auch nach 15 Jahren fällt es seinen Eltern immer noch schwer, über das Geschehene zu sprechen. Bis zu dreimal in der Woche besuchen sie ihren Sohn, nehmen ihn mit zu Ausflügen in die Stadt und versuchen ihm weitestgehend Normalität zu vermitteln. Dank der intensiven therapeutischen Betreuung im Pflegeheim kann sich Patrick inzwischen über kleine Gesten artikulieren. „Wir haben ihm beigebracht, über Blinzeln ‚ja‘ und ‚nein‘ zu sagen. Wenn ihm etwas gefällt, lacht er“, erzählt Vater Klaus-Dieter. Es sind diese Kleinigkeiten, an denen sich die Eltern erfreuen. Doch es gibt eben auch die schlechten Tage, wie Klaus-Dieter Seidel anmerkt: „Dann reagiert er gar nicht und man weiß nicht, ob er unsere Anwesenheit oder das Gesagte überhaupt wahrnimmt“.St_Georg040416004-2

Die alltägliche, permanente Kommunikation und die Förderung von Wachkomapatienten sind dennoch unabdingbar. „Wir arbeiten nach dem Grundsatz, dass unsere Bewohner alles um sich herum wahrnehmen, auch wenn sie nicht in der Lage sind, entsprechend darauf zu reagieren“, betont Verena Sowade. Denn selbst nach vielen Jahren können sich durchaus Fortschritte einstellen. Umso wichtiger sind die regelmäßigen therapeutischen Angebote wie Logopädie, Physio- und Ergotherapie. Bis zu fünf Mal pro Woche stehen bei den Bewohnern Physiotherapie, Steh-, Kommunikations-, Hirnleistungs- sowie Ess- und Schlucktraining auf dem Programm. Der Therapieplan ist dabei ganz individuell auf den Bewohner ausgerichtet. „Kommt ein neuer Bewohner zu uns, erarbeiten wir zu Beginn eine ganz intensive Biografie. Das heißt wir sprechen mit den Angehörigen über die vorherigen Vorlieben und Gewohnheiten des Betroffenen, an denen wir dann den Tages- und Therapieverlauf so gut wie möglich ausrichten. Für Langschläfer versuchen wir so beispielsweise die erste Therapiestunde etwas später beginnen zu lassen“, erklärt Verena Sowade.

Im Sinne der ganzheitlich aktivierendrehabilitativen Pflege ist der Personalschlüssel im Pflegeheim für Wachkoma des St. Georgs drei Mal so hoch wie in Seniorenpflegeheimen. Insgesamt betreuen 20 Pflegekräfte ebenso viele Bewohner. Neben der therapeutischen Pflege sorgen zudem verschiedene Ausflüge und Feste sowie Musik- oder Vorlesenachmittage für einen abwechslungsreichen Tagesablauf.

Ebenso wichtig wie die Bedürfnisse der Bewohner ist auch der vertrauensvolle Umgang mit den Angehörigen, um ihnen die psychisch belastende Situation zu erleichtern. So können Verwandte und Bekannte ihre Lieben beispielsweise jederzeit im Pflegeheim des St. Georgs besuchen und auf Wunsch einzelne pflegerische Tätigkeiten selbst ausführen. Im Falle einer Zustandsverschlechterung dürfen die Angehörigen auch über Nacht bleiben, um in den letzten Stunden Abschied zu nehmen. Verschiedene soziale Angebote, wie jährliche Ausflüge oder ein regelmäßig stattfindender Runder Tisch geben zudem Gelegenheit, außerhalb des Pflegeheims einmal auf andere Gedanken zu kommen. Auch die Seidels nutzen diese Möglichkeiten und sind dankbar für die engmaschige Betreuung durch das Pflegeheim.

Was genau ist Wachkoma und wie wird es verursacht?

Wachkoma, auch als apallisches Syndrom bezeichnet, ist eine Form des Komas, in dem der Mensch bestimmte Reflexe und Bewegungen zeigt, aber nicht bei Bewusstsein ist. Dieser Zustand wird hervorgerufen durch eine schwere Hirnschädigung die beispielsweise durch ein Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfälle, Sauerstoffmangel, eine Hirnhautentzündung oder einen Hirntumor verursacht werden kann. Im Wachkoma funktioniert das Großhirn nicht mehr, während die vom Hirnstamm gesteuerten Zentren des vegetativen Nervensystems (Atemzentrum, Herzkreislaufregulation, Schlaf-Wachrhythmus) sowie Kau-, Schluck- und ungezielte Schmerzreflexe noch ordnungsgemäß arbeiten. Atmung und Herz-Kreislaufaktivitäten sind in der Regel konstant, sodass sie keiner lebenserhaltenden Apparate bedürfen. Trotz der „scheinbaren“ Wachheit können sie jedoch nicht willentlich in Kontakt mit ihrer Umwelt treten. Patienten im Wachkoma leiden zudem an einer vollständigen Lähmung des Körpers. Einige Menschen verweilen viele Jahre in diesem Zustand, teilweise sogar bis an ihr Lebensende, für andere ist er unter Umständen ein Durchgangsstadium auf dem Wege der Besserung und des tatsächlichen „Wiedererwachens“.